Figuren Leben einhauchen – Schritt 3

Wie ich dir in den letzten beiden Beiträgen gezeigt habe, kann man über eine Person vieles herausfinden, indem man sie genau beobachtet. Nun geht es darum, die Geschichte vor der Geschichte kennenzulernen – denn auch erfundene Personen in Romanen und Kurzgeschichten haben eine Vergangenheit.

Mach dir Gedanken darüber, wie es deiner Figur in der (frühen) Kindheit erging!

Frage dich:
Wurde das Kind stets gut umsorgt, verhätschelt und mit Liebe überschüttet? 
Wurde es (manchmal oder oft) vernachlässigt? 
Oder gar körperlich und/ oder seelisch misshandelt?

Mach dir Gedanken über die Eltern deiner Figur 

Selbst wenn deine Figur keine Eltern hat, solltest du wissen, warum. 
Harry Potters Eltern sind gestorben – und wir erfahren im Lauf der sieben Bände ziemlich viel über sie.

In vielen Geschichten gibt es Kinder, die von ihren Müttern weggegeben wurden. Manchmal erfährt man, warum ihre Mütter das getan haben, manchmal nicht. (Ich selbst finde es spannend, wenn ich es erfahre.)

Wenn das Kind bei den Eltern aufwächst, frage dich, wie die Eltern leben. 
Welche Berufe haben sie? Welche Hobbys?
Wie ist der Charakter der Eltern?
Sind Mutter und Vater noch zusammen? Wenn ja: Ist ihre Beziehung liebevoll? Harmonisch? Streiten sie oft miteinander? Worüber streiten sie?
Haben sich die Eltern noch viel zu sagen? Sitzen sie abends gern zusammen, um miteinander zu plaudern? Oder reden sie kaum noch miteinander? Beschimpfen sie sich gar?

Wenn Eltern getrennt sind, stellt sich die Frage, ob das Kind noch beide Eltern sehen darf. Wenn ja, wie oft? Und wie verlaufen diese Besuche? Fühlt sich das Kind mit der Besuchsreglung oder auch dem Pendeln zwischen den beiden Elternteilen wohl?

Sind die Eltern zuverlässig? Halten sie ihre Versprechen ein?
Schenken sie ihrem Kind viel Aufmerksamkeit? Oder starren sie immer nur ins Handy?
Wie fühlt sich das Kind neben den Eltern? Fühlt es sich beachtet? Geliebt? Oder einsam? Oder gar unerwünscht?

Ist vielleicht ein Elternteil überängstlich und würde am liebsten jeden Schritt des Kindes überwachen – aus lauter Sorge, dass ihm etwas zustoßen könnte? 
Oder sind die Eltern sehr gelassen und vertrauen darauf, dass schon nichts Schlimmes passieren wird?

Manche andere Eltern sind permanent gestresst. Sie sagen stets: „Nicht jetzt, ich hab jetzt keine Zeit für dich!“
Wieder andere Eltern beschimpfen ihre Kinder vielleicht und sagen Sätze wie: „Wie kann man nur so dumm sein?“ oder: „Wenn es dich nicht gäbe, wäre mein Leben schöner“.
Wieder andere Eltern schlagen ihre Kinder …
Bedenke aber: Eltern schaden ihrem Kind im Normalfall nicht absichtlich. Die meisten Eltern lieben ihre Kinder, auch wenn es nach außen hin manchmal nicht so wirkt.
Manche Eltern sind überfordert, wenn ihr Kind frech wird. Sie glauben, eine „gesunde Watsche“ sei das beste Erziehungsmittel. Manche Eltern schlagen ihre Kinder und bereuen es im Nachhinein. Sie entschuldigen sind oft, trotzdem „passiert“ es ihnen wieder.
Manche Eltern sind depressiv, manche trinken zu viel,  mache haben Stress in der Arbeit und lassen ihre Wut an den Kindern aus …
Es gibt natürlich keine Entschuldigung für Eltern, die ihre Kinder quälen – aber als Autor*in solltest du dich immer fragen: Wieso tut jemand etwas?

Natürlich gibt es auch Eltern, die fast perfekt sind.
Ganz perfekt gibt es nicht. Alle Eltern nerven irgendwann. Und das kann in einer Geschichte ganz schön lustig werden! Ich liebe Geschichten, in denen Eltern alles tun, damit es ihren Kindern gut geht – und dabei von einem Fettnäpfchen ins andere treten.

[Für den Fall, dass deine Figur nicht bei den Eltern lebt, stell dir dieselben Fragen zu den Pflegeeltern, Großeltern, Erzieher*innen im Waisenhaus ….]


Wer war / ist die wichtigste Person für deine Figur?

Auch das solltest du unbedingt wissen. Fast alle von uns haben eine Person in ihrem Umfeld, die uns besonders fördert oder uns besonders in dem bestärkt, was wir tun. Oder die uns ein besonders Vorbild ist.
Nimm Harry Potter. Was wäre aus ihm ohne Dumbledore geworden?
(Überhaupt finde ich, dass Rowling in ihren Harry Potter-Büchern wirklich tolle Figuren erfunden hat – und ich wette, dass sich die Autorin selbst über jede Nebenfiguren sehr viel Gedanken gemacht hat.)

Ist deine Figur beliebt? Wir sie gemobbt? … Und wie war das früher?

War deine Figur in im Kindergarten/ in der Schule beliebt – oder nicht?
Hatte sie viele Freund*innen? 
Wurde sie oft gemobbt? 
Hatte sie eine*n Fantasiefreund*in?

Manche Kinder wirken auf andere „seltsam“ – weil sie zu still sind, gern für sich bleiben, mit einem Fantasiefreund sprechen …
Manche Kinder sind total beliebt, ohne dass sie selbst es ahnen.
Wieder andere Kinder sind gar nicht so beliebt, aber die anderen Kinder tun, was sie sagen, weil sie Angst haben.

Falls deine Figur schon erwachsen ist

… musst du natürlich auch wissen, was nach ihrer Kindheit geschah. Denke an die wichtigsten Personen und Begebenheiten im Leben deiner Figur bevor deine Geschichte beginnt. Wann war sie besonders glücklich – und welche Schicksalsschläge hat sie schon erlebt? In wen war sie bisher verliebt? Ist sie oft verlassen worden? Ist sie bisher erfolgsverwöhnt gewesen? Oder hat sie sich oft beworben und immer nur Absage bekommen? Hat sie jemanden verloren, den sie besonders liebte? (Das kann sogar ein geliebter Hund sein) … Es gibt unendlich viele Fragen, die man stellen kann.
Denk an Professor Snape aus Harry Potter. Ganz am Schluss haben wir etwas über ihn erfahren, das sein Verhalten plötzlich in einem anderen Licht erscheinen ließ. (Mir hat er danach sogar ein bisschen Leid getan.)

Vielleicht hast du schon ein paar Ideen?

Mein Tipp: 

Setz dich hin, schnapp dir in Blatt Papier und halte alles fest, was dir ganz spontan zur Vergangenheit deiner Figur einfällt. (Du kannst auch gleich mehrere Blätter für mehrere Figuren anlegen).

❗ Stress dich nicht – Du musst nicht alles sofort wissen. 

Ich selbst lege für jede meiner Figuren gleich zu Beginn ein Blatt an. Auf manchen Blättern steht anfangs nur sehr wenig (von manchen weiß ich zu Beginn nicht mal den Namen) – zu anderen Figuren fällt mir sofort sehr viel ein.

Wenn du einmal damit begonnen hast, dir Gedanken über die Vergangenheit deiner Figuren zu machen, wird dir nach und nach ganz automatisch immer wieder etwas einfallen. Die Ideen kommen meist dann, wenn man sie gar nicht erwartet – im Bus, am Schulweg, bei einem Gespräch mit einer Freundin … oder auch mitten in der Nacht. Halte also am besten immer ein Notizbuch bereit (oder du installierst dir eine Notiz-App auf dein Handy).

„Aber wozu muss ich das alles überhaupt wissen?“

Vielleicht denkst du: Das muss ich doch alles gar nicht wissen, in meiner Geschichte geht es schließlich um das JETZT!
Aber selbst wenn du über die Vergangenheit deiner Figuren kein einziges Wort schreiben willst – deine Leser*innen spüren, wie gut du deine Figuren kennst. Wir alle sind das Produkt unserer Vergangenheit. Du kannst die spannendste Geschichte schreiben – wenn deine Figuren blass bleiben, werden Leser*innen sie uninteressant finden.

Vorschau:

Das nächste Mal geht es um die intimsten Gedanken, Ängste und Geheimnisse unserer Figur.
Diese machen eine Geschichte nämlich spannend.

Leave a Comment

Comments

No comments yet. Why don’t you start the discussion?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert